Dieser Beitrag wurde erstmals am 20. Juni 2017 im theorieblog veröffentlicht.
Während in den Nachbardisziplinen schon seit einigen Jahren der Begriff der Praxis diskutiert wird, ist die Anzahl der Arbeiten in der Politikwissenschaft, die sich explizit und detailliert mit den praxeologischen Sozialtheorien beschäftigen, weiterhin übersichtlich. Dies ist bedauerlich, denn die praxistheoretischen Perspektiven würden es der Politikwissenschaft ermöglichen, über den Begriff der Praxis deutlich mehr der Vielfalt, Vielschichtigkeit und komplexen Dynamiken politischer Phänomene zu erfassen. Wie sehr eine derartige inhaltliche und methodische Neuausrichtung in der Politikwissenschaft notwendig ist, hat unter anderem Yascha Mounk in seinem theorieblog-Beitrag illustriert. Entsprechend versteht sich dieser Beitrag als Teil der von Mounk geforderten Neuausrichtung und soll dazu beitragen, über den Begriff der Praxis neue inhaltliche und methodische Impulse für die Politikwissenschaft zu eröffnen.
Im folgenden Beitrag rekonstruiere ich einige Grundelemente der praxistheoretischen Analyseperspektive und werde im Anschluss skizzieren, wie sich durch praxistheoretische Ansätze ungewohnte Perspektiven auf bekannte Phänomene des Politischen ergeben können, neue Bereiche des Sozialen als politisch wirkungsmächtige Praxis sichtbar werden und nicht zuletzt methodisch eine besondere Sensibilität für die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene entwickelt werden kann.
Grundelemente praxistheoretischer Perspektiven
Der Zugang zur praxistheoretischen Perspektive erscheint mitunter mühsam. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sich die Praxistheorie als Kombination von Sozialtheorie, Forschungsprogramm und Analysemethode schwer fassen lässt. Sie ist vielmehr ein Sammelbegriff für eine recht heterogene Ansammlung von ähnlichen Ansätzen (bspw. von Bourdieu, Giddens, Schatzki oder Reckwitz), die durch einige gemeinsame Grundannahmen verbunden sind (Vgl. Schäfer).
Mittels des Begriffs der Praxis verschiebt sich der sozialwissenschaftliche Analysefokus – nicht mehr das individuelle Handeln oder Strukturen werden als Erklärungsansatz für soziale Phänomene in den Blick genommen, sondern die Handlungspraxis der Subjekte, eingebettet in die vergangenen, aktuellen und sie umgebenden Praxissituationen mit all ihrer Komplexität und Dynamik. Soziale Praxis ist der Ort des Sozialen. Die Frage von Kontinuität und Wandel einer sozialen Ordnung, also wie sich das Soziale konstituiert, findet sich demnach in den unendlich vielen Praxissituationen einer Gesellschaft beantwortet. Aus dieser anti-essentialistischen Perspektive einer „flachen Ontologie“ des Sozialen (Vgl. Schatzki) ist es nicht möglich, einem bestimmen Ort oder Phänomen des Sozialen a priori besondere Prägekraft für die Konstitution einer sozialen Ordnung zuzuschreiben. Es ist vielmehr eine auf soziale Praxis bezogene empirische Frage.
Die praxeologische Forschungsperspektive fokussiert dabei nach Reckwitz den Blick auf die Bewältigung konkreter sozialer Praxis, die durch Aspekte und Dynamiken geprägt ist, die zwar schon immer Teil des Sozialen waren, aber bislang nicht hinreichend beachtet wurden.
Die Körper der Subjekte werden für verschiedenste Handlungen kompetent gemacht, in ihnen schreiben sich Kompetenzen, Wissen, Intuitionen und Routinen ein. Gerade deshalb sind Körper essentieller und vor allem prägender Bestandteil jeder sozialen Interaktion. Ähnlich verhält es sich mit Artefakten als zweite Seite der Materialität des Sozialen, denn spezifische Artefakte ermöglichen in jeweils spezifischen Situationen bestimmte Interaktionsdynamiken. Zentral für die Bewältigung von Praxissituationen ist das im Regelfall implizite praktische Wissen. Unter diesem Begriff versammelt sich beispielsweise das interpretative Verstehen von Bedeutungen eingesetzter Gesten, Gegenstände oder Rollen sowie skript-förmiges Wissen über die „richtige“ Abfolge von Handlungen und nicht zuletzt das emotional-affektive Gespür für das Ziel und das Angemessene in der spezifischen Praxissituation.
Jede Praxis vollzieht sich routinisiert, mittels kompetenter Körper, praktischen Wissens und bekannter kultureller Codes (um nur einige Faktoren zu nennen). Erst diese Wiederholung in Ähnlichkeit macht die Bewältigung der Praxissituationen möglich – funktionierende Praxismuster werden übernommen und weitergeführt. Gleichzeitig ist jede einzelne Praxissituation einzigartig (neuer Kontext, neue Komponenten), sodass die Bewältigung der Praxis immer eine Herausforderung ist und soziale Praxis entsprechen durch stetige Verschiebungen geprägt ist.
Das Politische neu entdecken
Die skizzierten Grundelemente der praxistheoretischen Perspektive zeigen, dass auch bekannte politische Phänomene aus einer ungewohnten Perspektive analysiert werden können. Adler und Pouliot illustrieren dies am Beispiel der G8-Gipfel. Sie beschreiben die Gipfel als Handlungsdramaturgien, die erst über die Beachtung von Aspekten wie ihrer jährlichen Wiederholung, die (variierende) Kompetenz der beteiligten Subjekte (in ihren Rollen als staatliche RepräsentantInnen, MitarbeiterInnen, JournalistInnen), die Essentialität von geteiltem Hintergrundwissen und die Rolle von Objekten (öffentliche und private Bereiche, Konferenztische, Verhandlungspapiere) in ihrer sozialen Komplexität als funktionierende Praxissituationen verständlich werden.
Während also etablierte politikwissenschaftliche Ansätze einen G8-Gipfel beispielsweise als Konkurrenz rationaler Akteure und wechselseitiges Aufeinandertreffen von Verhandlungsstrategien beschreiben, versucht eine praxeologische Perspektive demgegenüber, möglichst viele Aspekte der Praxissituation für die Analyse zu erschließen und Sensibilität für die Einmaligkeit genau dieser beobachteten Situation zu entwickeln. Damit werden bislang vernachlässigte Faktoren kontrastreich in den Fokus gerückt, um rätselhafte Dynamiken und Ergebnisse derartiger Gipfel erklären zu können.
Andere praxistheoretische Ansätze erweitern das Blickfeld auf soziale Phänomene derart, dass sie neue Bereiche des Sozialen als politisch wirkungsmächtige Praxis sichtbar machen. Die Soziologie der Kritik von Boltanski und Thévenot nimmt beispielsweise die alltägliche Praxis von Kritik und Rechtfertigung in den Blick, um über die Analyse dieser Praxis soziale Verschiebungen sogenannter Rechtfertigungsordnungen zu erfassen. Subjekte artikulieren und qualifizieren Kritik mit Hilfe verschiedener intersubjektiv geteilter, allgemein akzeptierter und als legitim geltender Rechtfertigungsordnungen. Maßgeblich für erfolgswahrscheinliche Kritik ist die Passgenauigkeit von angewandter Rechtfertigungsordnung einerseits und Rechtfertigungssituation andererseits. So qualifizieren beispielsweise ökologische Rechtfertigungsargumente eine Kritik nicht, wenn sich das Subjekt in einer klar marktorientierten Rechtfertigungssituation befindet.
Über die spezifische Bewältigung von alltäglichen Rechtfertigungssituationen konstituieren und verschieben sich aus dieser Perspektive soziale Ordnungen (beispielsweise die erfolgreiche Etablierung der ökologischen Rechtfertigungsordnung), was wiederum als genuin politisches Phänomen verstanden und analysiert werden kann.
Die Analyse sozialer Praxis ist nur mittels Methoden möglich, die, wie bspw. ethnologische Methothen, eine besondere Sensibilität für die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene mit sich bringen. Graebers Direct Action verdeutlicht, wie über teilnehmende Beobachtung ein neuer Zugang zum Politischen möglich wird. In seiner sehr aktiv interpretierten Form teilnehmender Beobachtung beschreibt er die Ereignisse rund um die Vorbereitung und Durchführung globalisierungskritischer Gipfelproteste 2001 in Quebec. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die sozialen Dynamiken der basisdemokratischen Entscheidungsprozesse im Vorfeld der Proteste und die Dramaturgie der Proteste selbst gelegt. Beide genannten Phänomene werden durch die teilnehmende Beobachtung als vielschichtige und ereignishafte Dynamiken greifbar, deren Ergebnisse und Folgen nicht prädeterminiert waren, sondern erst unter Berücksichtigung der unmittelbaren Praxissituationen verständlich werden. Andere Zugänge zum Feld hätten nicht ermöglicht, die sich entwickelnden Ereignisketten von Praxissituationen (bspw. Schwierigkeiten bei der Einreise nach Kanada und der daraus entstehenden Einflüsse von Ab- und Anwesenheit bestimmter AktivistInnen bei den Vorbereitungsbesprechungen oder die Feinheiten basisdemokratischer Praxis und Beziehungen zwischen den verschiedenen AktivistInnen-Gruppen), zu erfassen, die schließlich in den sehr spezifischen Demonstrationsereignissen von Quebec mündeten.
Fazit
Durch die praxistheoretischen Perspektiven und Methoden verschiebt sich der Blick auf soziale Phänomene: Das Wunder der Bewältigung sozialer Komplexität und die Sensibilität für die Feinheiten sozialer Dynamiken rücken in den Fokus der Analysen. Für eine Politikwissenschaft, die in der Vergangenheit allzu oft in sehr ähnlichen Analyserastern gedacht und mit einem eng begrenzten methodischen Set gearbeitet hat, ist die praxeologische Blickverschiebung eine faszinierende Gelegenheit, um mit Hilfe praxistheoretischer Ansätze diese Muster aufzubrechen und das Politische in unerwarteter Form, an ungewohnter Stelle und mit hoher, unmittelbarer Intensität neu zu entdecken.